Wege aus einer kranken Gesellschaft by Erich Fromm

Wege aus einer kranken Gesellschaft by Erich Fromm

Autor:Erich Fromm [Fromm, Erich]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fachbuch
ISBN: 9783959120319
Herausgeber: Open Publishing
veröffentlicht: 2015-11-27T16:00:00+00:00


6. Andere Auffassungen vom Menschen und der Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert

Die Diagnose der Krankheit der heutigen westlichen Kultur, wie wir sie im vorigen Kapitel zu stellen versuchten, ist keineswegs neu; sie möchte lediglich zu einem besseren Verständnis des Problems beitragen, indem sie versucht, den Begriff der Entfremdung auf eine mehr empirische Weise auf verschiedene beobachtbare Erscheinungen anzuwenden und die Verbindung zwischen den Krankheitserscheinungen der Entfremdung und der humanistischen Auffassung der menschlichen Natur und der seelischen Gesundheit herzustellen. Tatsächlich ist es höchst bemerkenswert, dass bereits einige Denker im vorigen Jahrhundert eine kritische Einstellung zur Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts hatten, schon lange bevor die heute so offenkundigen Symptome in Erscheinung traten. Bemerkenswert ist auch, dass ihre kritischen Diagnosen und Prognosen soviel miteinander und auch mit den kritischen Äußerungen unserer Zeit gemeinsam haben.

Die Prognose, dass das zwanzigste Jahrhundert in Verfall geraten und der Barbarei anheimfallen werde, wurde von Menschen der verschiedensten philosophischen und politischen Richtungen gestellt. Der Schweizer Konservative Jakob Burckhardt, der russische religiöse Radikale Leo Tolstoi, der französische Anarchist Pierre Joseph Proudhon wie auch sein konservativer Landsmann Charles Baudelaire, der amerikanische Anarchist Henry Thoreau und später sein stärker politisch orientierter Landsmann Jack London sowie der deutsche Revolutionär Karl Marx – sie alle waren sich in ihrer schärfsten Kritik an der modernen Kultur einig, und die meisten von ihnen rechneten mit der Möglichkeit, dass ein Zeitalter der Barbarei bevorstehe. Die Voraussagen von Marx waren etwas weniger pessimistisch, weil er annahm, dass der Sozialismus eine mögliche, ja sogar wahrscheinliche Alternative darstelle.

Jakob Burckhardt schrieb aus seiner konservativen Sicht und mit dem Eigensinn des Schweizers, der es ablehnt, sich von schönen Worten und äußerem Glanz beeindrucken zu lassen, in einem Brief, Europa werde vielleicht noch ein paar friedliche Jahrzehnte erleben, bevor es sich im Verlauf einiger furchtbarer Kriege und Revolutionen in eine neue Art von Imperium Romanum, in einen militärischen und wirtschaftlichen Despotismus verwandeln werde: „Das zwanzigste Jahrhundert ist für alles andere als für eine wahre Demokratie auserlesen.“ (Vgl. J. Burckhardt, 1935, S. CXLI.) [IV-149] Und vorher (26.4.1872) schrieb er an seinen Freund Friedrich von Preen:

Ich habe eine Ahnung, die vorderhand noch völlig wie Torheit lautet und die mich doch durchaus nicht loslassen will: der Militärstaat muss Großfabrikant werden. Jene Menschenanhäufungen in den großen Werkstätten dürfen nicht in Ewigkeit ihrer Not und ihrer Gier überlassen bleiben; ein bestimmtes und überwachtes Maß von Misere mit Avancement und in Uniform, täglich unter Trommelwirbel begonnen und beschlossen, das ist’s, was logisch kommen müsste. (J. Burckhardt, 1935, S. 364.)

Eine lange freiwillige Unterwerfung unter einzelne Führer und Usurpatoren stehe in Aussicht. Die Leute glaubten nicht länger an Prinzipien, aber sie würden periodisch an Retter glauben. Aus diesem Grunde würde in dem herrlichen zwanzigsten Jahrhundert die Autorität wieder das Haupt erheben, und es würde ein schreckliches Haupt sein.

In seiner Voraussage von Systemen wie dem Faschismus und dem Stalinismus für das zwanzigste Jahrhundert unterscheidet sich Burckhardt nur wenig von den Prophezeiungen des Revolutionärs Pierre Joseph Proudhon. Dieser schreibt, in Zukunft drohe

(...) eine kompakte Demokratie, die dem Anschein nach auf die Diktatur



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